Reisen ist gewissermaßen eine sozial anerkannte Form der Flucht vor der eigenen Gesellschaft. Das Verlangen nach Beheimatung und Routine ist eng verbunden mit der Sehnsucht dieser zu entfliehen. Je mehr der Wunsch nach Verwurzelung, Alltag und Vertrautheit befriedigt wird, desto größer wird der Drang, sich anderen Einflüssen zu öffnen. Je mehr Freiheit und Entfremdung erlebt wird, desto stärker meldet sich wieder das Bedürfnis nach sicherer Verankerung in der gewohnten Lebenswelt.
Offensichtlich hatte ich ein Zuviel an Verwurzelung in meinem Leben. Ich spürte in den vergangenen Jahren eine immer größer werdende Sehnsucht nach der Ferne. So entschied ich mich, im Sommer 2016 eine Auszeit zu nehmen und zwei Monate in der Hauptstadt Nepals zu verbringen.
Du wirst dich jetzt vermutlich fragen: warum ausgerechnet Kathmandu? Ganz einfach: 2011 bis 2018 reisten mein Mann Josef und ich regelmäßig in den Himalayastaat, um am interkulturellen Entwicklungsprojekt des österreichisch-nepalesischen Vereins ‚khusi.initiative’ zu arbeiten. Dabei wurde der Schulbesuch für 22 Kinder aus sozial benachteiligten Familien finanziert und das Leben in einer Wohngruppe ermöglicht.
In den vielen Jahren ist mir das Land sehr vertraut geworden und die khusi-Kinder sind mir ans Herz gewachsen. Jedes Mal, wenn ich die Boardingkarte für meinen Rückflug nach Österreich in Händen hielt, klopfte ein unangenehmes Gefühl bei mir an … aufwühlendes, unersättliches Fernweh! Die Zeit in Kathmandu war einfach immer zu kurz und ich musste widerwillig den Nachhauseweg antreten.
Doch einmal im Leben sollte es anders sein. Anfang Juli 2016 machte ich mich mit großen Erwartungen und zehn kg Übergepäck 🙂 auf den Weg. Mit dieser Reise ging ein großer Lebenstraum in Erfüllung: endlich einmal längere Zeit im Ausland verbringen.
Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, was es eigentlich braucht, damit eine Reise mein Leben verändert und ich wirklich bei mir selbst ankommen kann. Hier sind sie, die Eckpfeiler meiner Selbsterkenntnis:
Inhaltsverzeichnis
Lebendigkeit & Aktivität
Lebendigkeit & Aktivität waren am Beginn meines Auslandsaufenthaltes zwei wichtige Aspekte, um mich möglichst rasch einzugewöhnen. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich mein neues Betätigungsfeld definiert: ein Nepali-Sprachkurs während der Woche und Projektarbeit mit den khusi-Kindern am Wochenende.
Bei all den vielen neuen Aktivitäten merkte ich bald, dass ich als Ausgleich einen vertrauten Anker brauchte, um das Erlebte gut verarbeiten und Kraft tanken zu können. Dafür waren Yoga und Pilates perfekt geeignet, da sie auch zu Hause Bestandteil meines wöchentlichen Workouts sind. Allerdings ließ sich meine interkulturellen Kompetenzen damit nicht ausbauen, denn in den trendigen Yoga- und Pilatesstudios von Kathmandu traf ich vorwiegend bewegungshungrige Europäer und Amerikaner.
Klarerweise wollte ich auch nepalesische Fitnesstrends kennenlernen. Dank meiner Neugier landete ich in einem Nepali-Tanzkurs, der stark von Bollywood inspiriert war. Meine kulturelle Verwirrung hätte größer nicht sein können. So ziemlich alles, was bei uns bewegungstechnisch in die Kategorie ‚No-Go‘ fällt, schien in Nepal geradezu ‚en vogue‘ zu sein. Meine Bandscheiben wussten nicht so recht, ob sie die ruckartigen und speedigen Verrenkungen gut oder schlecht finden sollten. Meinem Gemüt wiederum tat die prickelnde Tanzstunde sehr gut. Es machte großen Spaß, meine Hüften in Gesellschaft von tanzbegeisterten nepalesischen Frauen zu schwingen. Die ohrenbetäubende Lautstärke der energiegeladenen Bollywood-Songs heizte die Stimmung zusätzlich an. Wieder mal hat sich bewahrheitet: geh’ raus aus der Komfortzone und du erlebst magische Augenblicke.
Grenzüberschreitungen
Das Herauslösen aus der gewohnten Umwelt und die Annäherung an fremde Lebenswelten stellt für mich immer aufs Neue eine Grenzerfahrung dar. Ein Thema hat mir meine Grenzen ganz deutlich aufgezeigt: die unglaublich starke Luftverschmutzung in Kathmandu.
Je länger ich in meiner Wahlheimat auf Zeit wohnte, umso mehr machte mir die schlechte Luft zu schaffen. Spaziergänge durch mein Wohnviertel und Taxifahrten wurden zur Qual für meine überbeanspruchten Lungen. In den Sommermonaten ist Monsunzeit in Nepal. Ein Segen und Fluch zugleich. Der Regen wäscht einmal am Tag die Luft rein, was ein kurzes Durchatmen ermöglicht. Die sintflutartigen Regengüsse verwandeln jedoch die ohnehin desolaten Straßen innerhalb kürzester Zeit in unpassierbare Wasserläufe.
Abenteuer
Ohne Zweifel gehört eine Portion Abenteuer zum Projekt Auslandsaufenthalt. Für mich hieß das, ohne Helm auf dem Rücksitz eines Motorrades durch die Rush-Hour einer Großstadt zu brausen. Ein kurzes Stoßgebet zu meinem Schutzengel reichte aus, um all meine Bedenken über Bord zu werfen und mich ins Biker-Abenteuer zu stürzen. Mit viel Geschick manövrierte Progress das Gefährt durch die heillos überfüllten Straßen. Zu Hause undenkbar, in Nepal habe ich es ohne viel zu überlegen einfach gemacht. Falls du das jetzt liest Mama: „Das war eine einmalige Aktion, versprochen!“
Erleben von Unbekanntem und Außergewöhnlichem
Von meinen anderen Reisen weiß ich: je länger ich in einem fremden Land bin, desto tiefer tauche ich in die Kultur ein. In Nepal durfte ich diesbezüglich eine ganz besondere Erfahrung machen. Anfangs war ich fasziniert von den exotischen Sadhus und den fremdartigen Bräuchen im Land. Unweigerlich schnappte die Exotisierungsfalle zu und ich fing an, das Fremde zu idealisieren. Ein Selfie mit einem skurrilen Typen hier, ein Selfie mit vermeintlich glücklichen Kindern dort. Die Trophäen wurde selbstverständlich sofort auf Facebook gepostet und die zahlreichen Likes bestärkten mich noch in meinem Tun.
Diese exotischen Eindrücke verstellten jedoch den Blick auf die Verhältnisse, in denen die Menschen wirklich leben. Je länger ich dort war, desto bewusster wurde mir: was für mich ein Abenteuer ist, ist für die Menschen in Nepal Teil ihres Alltags. Nach und nach habe ich begonnen, auch die Schattenseiten wahrzunehmen.
Zum Beispiel die Rolle der Frau in Nepal ist ein sehr sensibles Thema. Der Himalajastaat ist weit von einer Gleichberechtigung von Männern und Frauen entfernt. Die Unterdrückung zieht sich durch alle Lebensbereiche. Arrangierte Ehen, teilweise im Kindesalter, Besitzlosigkeit, Ausbeutung und Mädchenhandel sind weit verbreitet. Nepalesische Frauen arbeiten vornehmlich im Haushalt. Sie sind für alles zuständig, was daheim anfällt und kommen oft nicht in den Genuss einer guten Ausbildung.
Es gibt aber auch die anderen, die modernen nepalesischen Frauen. Sie leben vorwiegend in Kathmandu, gehen zur Schule und engagieren sich bei gesellschaftlich relevanten Themen.
Ich durfte Durga, die Frau von unserem langjährigen Freund Progress, besser kennenlernen. Sie studierte damals Englisch und arbeitete eifrig an ihrer Masterarbeit. Mittlerweile ist sie Mama von einer entzückenden Tochter. Aus vielen Gesprächen mit ihr weiß ich, dass für sie der Spagat zwischen Tradition & Moderne nicht immer einfach ist.
Horizonterweiterung
Jeden Morgen machte ich mich auf und spazierte in das Namaste Nepali Language Institut von Urmilla Dangol. Das schöne beim Erlernen von Nepali war, dass ich nicht nur die Sprache lernte, sondern auch einen tiefen Einblick in „the Nepali way of life“ bekam.
Namaste Nepali Language Institut, Kathmandu
Ich war doch recht erstaunt über meine erste Lektion, die da lautete: „You always respect husband, but you never respect children.“ Diese Aussage konnte ich nicht einfach so stehen lassen und eine emotionale Wertediskussion mit meiner Sprachlehrerin war unumgänglich. Ich plusterte mich richtiggehend auf und verteidigte vehement die Rechte von uns Frauen. Urmilla war damit natürlich nicht d’accord, war es doch für sie das Normalste der Welt, ihren Ehemann respektvoll zu behandeln und sich seinen Wünschen und Bedürfnissen unterzuordnen. Im sonst so friedlichen Unterrichtsraum in Thamel sind da wirklich unterschiedliche Welten aufeinandergeprallt. In solchen Augenblicken half nur eines: Ambiguitätstoleranz – was soviel heißt wie Widersprüchlichkeiten zur Kenntnis nehmen und aushalten.
Nach ein paar Tagen wurde mir bewusst, dass ich mir mit diesem Sprachkurs viel vorgenommen hatte. Den Traum vom Erlernen der hübschen Sanskrit-Schriftzeichen legte ich bereits am dritten Tag ad acta. Für kommunikationsfreudige Quasselstrippen wie ich es bin war es wohl besser, sich aufs Sprechen zu fokussieren.
Obendrein war es für mich eine Prämiere, mir eine Fremdsprache über eine Drittsprache, dem Englischen, anzueignen. Ich brauche nicht erwähnen, dass es dadurch immer wieder zu gravierenden Kommunikationsschwierigkeiten kam, weil Englisch weder meine noch Urmillas Muttersprache war. Speziell bei kniffeligen Grammatikfragen kamen wir auf keinen grünen Zweig. Und glaube mir, an diesen Tagen war es wirklich zum Haare raufen.
Wie man an dieser kleinen Nepali-Kostprobe sehen kann, ist doch ein bisschen etwas hängengeblieben. Eine sehr wertvolle Erkenntnis war, dass es beim Nepali-Lernen nicht nur um die bloße Aneignung von exotisch klingenden Vokabeln und Grammatik ging. Vielmehr war es notwendig, meine eigenen Denkgewohnheiten über den Haufen zu werfen.
Am Beispiel der Redewendung „bistarai jaanus“ wird sichtbar, wie Kultur eine Sprache beeinflusst:
Wenn man sich in Nepal verabschiedet, dann wünscht der Bleibende dem Gehenden „bistaarai jaanus“. Das bedeutet „geh’ langsam“. Und der andere antwortet „bistaarei basnus“ – geh es du zu Hause auch langsam an. Ich finde das sehr schön, weil man mit diesen Worten eingeladen wird, einmal eine Pause zu machen und einen Moment innezuhalten. Das widerspricht völlig unserem Vorwärtsdrängen und unserem Bedürfnis, möglichst Vieles in kurzer Zeit zu erledigen.
Begegnung und Austausch mit anderen Menschen
In einer herkömmlichen Urlaubsreise mit Erholungscharakter bleibt oft zu wenig Zeit für einen echten Austausch mit den Menschen. Ein längerer Auslandsaufenthalt bietet jedoch die Chance für intensive Begegnungen.
Mehrmals war ich bei Durga & Progress eingeladen. Die Beiden wohnen mitten in Pashupatinath, einer der wichtigsten Tempelanlagen des Hinduismus und ein UNESCO Weltkulturerbe. Von ihrer neu gestalteten Buddha Terrace aus hatte ich einen herrlichen Blick auf das gesamte Areal. Aber nicht nur mir gefiel es auf der Penthouse-Terrasse, nein auch bei den frechen Affen kam sie gut an. Mit ihren beängstigenden Drohgebärden störten sie auf unliebsame Art und Weise unser gemeinsames Abendessen.
Durga schenkte mir darüber hinaus einen unvergesslichen Sightseeing-Tag. Sie führte mich durch ihr Heimatdorf Kirtipur, einem Zentrum der Newari-Kultur. Das liebliche nepalesische Village am Rande des Kathmandutals war bloß eine Stunde entfernt und nur wenige Touristen verirrten sich in diese Gegend. Volltreffer, ein authentisches und unverfälschtes Erlebnis … so mag ich das.
Unser langjähriger Freund Progress betreibt in Kathmandu die Reiseagentur Prajesh Travel & Tours. Gerne rühren wir die Werbetrommel für ihn und empfehlen ihn weiter als kompetenten und quirligen Guide. Geht nicht, gibt’s nicht bei Progress. Scheinbar unlösbare Transportprobleme und kurzfristige Hotelreservierung managt er im Handumdrehen.
+97 79 80 30 07 074 | +97 79 84 11 95 379 | progress_2005@mail.com | Facebook: Prajesh Adhikari
Kreativität
Essen verbindet Menschen und bringt Kulturen zusammen. Unter diesem Motto startete ich mit den khusi-Kindern ein Kochprojekt. Ziel war es, die Küche als Ausdruck der kulturellen Identität zu nutzen, um einen interkulturellen Austausch zu schaffen. Ein wunderbares Projekt der kulinarischer Völkerverständigung!
Die khusi-Kinder waren eingeladen, mit uns nationaltypische Gerichte aus Nepal und Europa zu kochen. Das Resultat: Kaiserschmarren goes Nepal and Momo goes Austria … „Mitho Cha“ – Das schmeckt mir!
An einem anderen Tag unternahmen drei Burschen aus der khusi.initiative mit mir eine spannende Stadtsafari durch das tibetische Viertel Boudhanath. Sie hatten dabei Gelegenheit, ihre Heimatstadt unter einem neuen Blickwinkel zu entdecken und sich spielerisch mit Fotografie zu beschäftigen.
Die Aufgabe bestand darin, bestimmte Wissensfragen über Boudha zu beantworten und Fotos von vorgegebenen Kategorien zu machen. Hier ein Schnappschuss von einer typischen Straßenszene von unserem begabten Künstler Ganesh …
Die Stadterkundung reflektierten wir ein paar Tage später in einem gemeinsamen Workshop. Mit Hilfe eines selbst gestalteten Plakats präsentierten die Jungs die Ergebnisse stolz der Gruppe.
Bewältigungsstrategien
Die zwei Monate im Ausland waren für mich eine Art Selbsttest – das erste Mal lebte ich für längere Zeit alleine und war ganz auf mich selbst gestellt. Manchmal hatte ich das Gefühl über mich hinauszuwachsen. Flexibilität, Eigenregie und Selbstverantwortung beflügelten mich und setzen ungeahnte Energien frei. Es gab aber auch Tage, an denen mir meine Familie, das knusprige österreichische Bauernbrot und unser kuscheliges Sofa mit Blick ins Mühlviertel fehlten. Ich glaube so etwas nennt man Heimweh. Für mich eine gänzliche neue Gefühlslage, plagte mich zu Hause doch immer Fernweh. Die beste Strategie dagegen war dann, meine Lieblingsplätze aufzusuchen.
Dieser wunderschöne Song aus einem Bollywood-Movie war auch eine Aufmunterung für mich, wenn es schwierig war. Denn ehrlich gesagt: Nepal ist schon ein Land, das mich körperlich wie geistig sehr stark beanspruchte.
Ich hatte bei meinen Reisevorbereitungen so eine Vorahnung, dass bei einem derartigen Trip nicht immer alles eitle Wonne sein würde. Aus diesem Grund habe ich bereits im Vorfeld meine Tochter Jana und meine Freundin Helga eingeladen, um nicht zu sagen mobilisiert, mich zu besuchen. Im Nachhinein betrachtet war das eine gute Entscheidung, denn die Wiedersehensfreude am Tribhuvan Airport war jedes Mal enorm!
Spontan organisierten die Beiden zwei tolle Workshops für die khusi-Kinder. In einem Shiatsu-Kurs mit Helga lernten die Kids wie so manches Wehwehchen durch Berührung wegfließen kann. Jana unternahm mit den Burschen und Mädchen eine gedankliche Reise durch Indien und praktizierte einen Nachmittag lang Kinderyoga.
Erkenntnis & Reife
Ganz nach dem Prinzip: aus der Ferne sieht man Vieles klarer, brachte die Reise für mich zahlreiche Erkenntnisse und einen Reifeprozess mit sich.
Erkenntnis #1: Ich kann jetzt für mich sagen, dass ich das Fremde brauche, um mich weiterzuentwickeln. Ohne gelegentlichen Ausbruch aus der gewohnten Lebenswelt verkümmert meine Seele. Seit dieser Nepalreise gelingt es mir besser, mit dem Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach Verwurzelung und dem Wunsch nach Weltoffenheit zurechtzukommen. FAZIT: Nachdem ich im Unterwegssein angekommen bin, bin ich mittlerweile auch zu Hause angekommen.
Erkenntnis #2: Fern von zu Hause wächst die Sehnsucht nach dem Vertrauten. Dinge, die zu Hause selbstverständlich sind wie Familie, Freunde, herrliche Landschaft, frische Luft und ein funktionierendes Gesundheitssystem gewinnen plötzlich an Bedeutung.
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Autorin: Marlies
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