Neuguinea ist ein Ort, der jede Menge Exotik verspricht und manchmal auch Rätsel aufgibt. Mit dem Besuch von ‚Steinzeitmenschen‘ im Bergregenwald setzen wir uns diesmal ganz bewusst einer sehr fremden Kultur aus. Wir möchten Antworten auf die Fragen finden: Wie leben die Menschen dort? Wie sieht der Alltag eines Naturvolkes aus? Wie konnten sie sich ihre Kultur bewahren?
Um bei der Antwortsuche ein Tappen in die Exotisierungsfalle zu vermeiden (Blog Das professionelle Exotikmanagement der Reisebranche), initiieren wir ein ‚Photo-Voice-Projekt‘ mit den Einheimischen. Wir blicken hinter die Kulissen der Dani-Kultur und versuchen so manches Geheimnis um ihren Stamm zu lüften.
Die Hauptrolle spielt auch diesmal Melius Walalua … du kennst ihn von unserem Blog Eine Begegnungsreise ins Land der Dani. Für all jene, die sich erst jetzt in unsere Geschichten aus dem Baliem Valley einklinken, stellen wir den bemerkenswerten jungen Mann kurz vor.
Milieus ist in zwei Welten zuhause. Er gehört dem Stamm der Dani an und ist Clan-Chef im Dorf Osilimo. In dieser Welt ist das Familienoberhaupt ein geachteter Mann. Er agiert umsichtig als stolzer Krieger, geschickter Jäger und fleißiger Bauer. Er ist Versorger der Sippe, Baumeister und Handwerker. In der anderen, der fortschrittlichen Welt wird der Ureinwohner und bekennende Christ als Person kaum wahrgenommen. Melius arbeitet gelegentlich im Tourismus. Mit der Machete bahnt er dann für Touristen den Weg durch das Buschland, trägt den Rucksack für die Gäste und übersetzt den lokalen Dialekt ins Indonesische.
Wir haben das große Glück, Melius in beiden Rollen kennenzulernen. Heute nehmen wir dich in sein Heimatdorf Osilimo mit und lassen dich an seinem Alltagsleben teilhaben.
Inhaltsverzeichnis
Kennst du Photo Voice?
‚Photo Voice‘ ist für uns eine kreative Methode, um auf Reisen einen echten interkulturellen Austausch erleben zu können. Wir nutzen diese Arbeitsweise gerne, da sie die Betroffenen aktiv mit einbezieht. Der Ansatz ist denkbar einfach: wir haben mehrere Dani gebeten, ihr Leben im Dorf zu fotografieren. Diese Bilder wurden anschließend in einem Interview reflektiert und interpretiert.
Mit Fotos die soziale Welt entdecken
Rückblickend ist es uns gelungen, Einsicht in die Lebenswelt von Melius zu bekommen. Ein Perspektivenwechsel wurde dank Photo-Voice möglich und zeigte, wie der Ureinwohner seinen Alltag aus seiner Sicht wahrnimmt. Es kamen Facetten des Dorflebens zutage, die anderenfalls verborgen geblieben wären. Ganz wesentlich bei dieser Methode ist, dass jeder Fotograf selbst entscheiden kann, wie er sich und seinen Lebensraum darstellen möchte.
Foto (c): Sinok Walalua
Wie aus einem Workshop ein Stammesritual wird
Ursprünglich wäre geplant gewesen, das Vorhaben mit einem Einführungsworkshop zu beginnen, um die Dorfbewohner ins Boot zu holen und ihnen die Hintergründe zu erklären. Doch wie so oft bei interkulturellen Projekten bewahrheitet sich: always expect the unexpected! Und genau das ist auch der Grund, warum wir diese Projekte so lieben. Wir sind gefordert, uns mit Interesse, Humor, Offenheit und Toleranz in die Kultur der anderen einzufühlen. Da passiert echte Auseinandersetzung und interkulturelles Lernen.
Die erste Lektion des Tages lautet: In Papua ticken die Uhren anders, nämlich gar nicht 🙂 Eile ist den Menschen hier fremd. Als wir so richtig loslegen wollen, interveniert Melius in seiner gewohnt ruhigen Art und bittet uns in seine Männerhütte. OK, wir haben verstanden: gehen wir’s eben langsam an.
Die runde Hütte ist innen geräumiger als sie von außen vermuten lässt. Wir nehmen auf weicher Graspolsterung Platz. Ebenerdig befindet sich der Wohnraum für 6 bis 8 Personen mit einer offenen Feuerstelle in der Mitte. Eine Holzleiter führt in den Schlafraum im Dachgeschoß. Ein Rauchabzug fehlt, daher klebt an der Decke eine dicke Rußschicht. Das spärliche Licht verbreitet zusammen mit dem qualmigen Geruch eine urzeitliche Atmosphäre.
Noch bevor jemand das Wort ergreift, ist es jetzt Zeit für ein Begrüßungsritual. Mit viel Hingabe wählen die Männer Tabakblätter und allerlei Ingredienzien für eine selbst gedrehte Zigarette. Wir beide sitzen daneben, beobachten die Rauchzeremonie und saugen die Magie dieses Augenblickes in uns auf. „Passiert das gerade wirklich?“, fragen wir uns. Eigentlich gehören wir nicht hierher, und trotzdem haben wir das Gefühl, willkommen zu sein. Alles hat seinen Ablauf, die Dinge gehen ihren gewohnten Gang. Wir sind angekommen im Alltag der Dani – wie schön!
Mit dem Satz: „This is an opportunity for you to explain your culture and to show the beauty of your village from your point of view“ unterbricht Marlies den Tabakgenuss und beginnt vorsichtig das Gespräch. Unser Guide Penius überbrückt als Übersetzer die Sprachbarriere zwischen Dani-Language, Indonesisch und Englisch. Für die Erklärung der Aufgabenstellung erweisen sich unsere vorbereiteten Bildkärtchen als sehr hilfreich. Sie zeigen, von welchen Aspekten des Alltags die Dorfbewohner Fotos anfertigen sollten. Melius hört aufmerksam zu, inspiziert ein Kärtchen nach dem anderen, hinterfragt ein paar Unklarheiten und gibt schließlich seine Zustimmung für das Projekt. Es kann losgehen!
Gelebter Kollektivismus: wir machen es gemeinsam
Von diesem Augenblick an geht alles recht schnell. Die Teilnehmer wählen ein Kärtchen aus und machen sich ans Werk. Auffallend ist, dass alle zusammenarbeiten, sei es bei der Auswahl des Motivs oder bei der richtigen Handhabung der Kamera. Es ist nicht zu übersehen, dass sie das erste Mal einen Fotoapparat in Händen halten. Josef gibt eine Ruckzuck-Einschulung und schon sind sie bereit für ihr erstes Fotoshooting.
Der Clanoberhaupt Melius zieht die Fäden im Hintergrund. Er achtet darauf, dass alle Familienmitglieder mit einbezogen werden. Einzig seine Frau Sinok wird nicht integriert, Sie bleibt zurück im Frauenhaus. Auf unsere Bitte hin, auch Sinok am Geschehen teilhaben zu lassen, mischt sie sich etwas skeptisch und verunsichert unter die anderen. Wie sich noch herausstellen sollte, spielen Frauen im Dorfleben der Dani eine eher untergeordnete Rolle.
Das solidarische Zusammenhelfen ist für kollektivistische Kulturen charakteristisch. Das Wir-Gefühl hat einen sehr hohen Stellenwert und die Bindungen zwischen den Generationen sind stärker ausgeprägt als in unserer Gesellschaft. In Papua geht man gemeinsam durch das Leben, alleine ist hier niemand. Jeder Mensch ist eingebettet in familiäre Strukturen, aufgefangen vom engmaschigen Netz der Gemeinschaft. Das Miteinander ist von gegenseitigem Geben und Nehmen geprägt. Die Familie bietet Schutz und dient der sozialen Absicherung.
Das ist wohl auch der Grund, warum im Anschluss an das Fotografieren keine Einzelinterviews stattfinden, sondern ausschließlich eine Gruppenarbeit. Die Mittagssonne brütet über Osilimo und so beschließen wir, uns für die Besprechung der Bilder in einer Art Logia zu versammeln. Ein interessanter Platz. Skurril anmutende Gegenständen wie Schweinekiefer, Penisköcher, Federhüte und Speere hängen an der Wand, Plakate mit Bibelzitaten über dem Tisch.
Melius‘ Lebenswelt
Beispielhaft für alle Fotointerviews widmen wir uns erneut Melius, dem Hauptdarsteller in unseren Geschichten aus Papua. Die folgenden Interviews sind sinngemäß übersetzt und werden original in einfacher Sprache wiedergegeben.
FOTO #1
Am ersten Bild posiert das Familienoberhaupt vor seiner Männerhütte. Aufgenommen wurde das Foto von seinem Freund Marius.
Alle, die glauben, dass in Papua nur Nackedeis unterwegs sind, müssen wir leider enttäuschen. Mittlerweile haben die Dani Anschluss an globale Modetrends gefunden und tragen im Alltag bunte T-Shirts und Jeans oder eben zweckmäßige Army-Hosen. Auf unbequemes Schuhwerk verzichten sie jedoch nach wie vor.
Die Aufnahme ist das Ergebnis auf die Frage: Wie sieht dein Dorf aus? Im Interview erzählt uns die ganze Gruppe dann Folgendes:
Ganz nebenbei lernen wir ein paar Dani-Wörter:
- pilamo = men house = Männerhütte
- huma = women house = Frauenhütte
- honila = kitchen house = Küche
- wamaila = pig house = Schweinestall
Auf unsere Frage, warum es mehrere Frauenhäuser gibt, erklären sie uns:
Das haben wir aus diesem Interview gelernt:
- Die Anordnung der Hütten folgt einem bestimmten Muster.
- Polygamie ist ein anerkanntes Sittenverhalten und offensichtlich weit verbreitet.
- Der Mann hat die Pflicht, für jede seiner Frauen eine eigene Hütte zu bauen.
- Die domestizierten Schweine (Wam) nehmen einen fast kultischen Status innerhalb der Dani-Gesellschaft ein.
FOTO #2
Das zweite Bild wurde von Julianje aufgenommen, der Tochter eines Freundes.
Wir haben den Clan-Chef gefragt, wo sich sein Lieblingsplatz im Dorf befindet. Im Interview beschreibt er dieses Bild wie folgt:
Wir verstehen, dass sich Melius gerne an diesen Ort zurückzieht, um Kraft zu tanken. Auch wir haben zuhause einen Lieblingsplatz im Grünen, den wir aufsuchen, wenn wir uns nach einem intensiven Arbeitstag etwas Guten tun möchten. Damit haben wir eine Gemeinsamkeit gefunden. Sowohl die Österreicher als auch die Dani zieht es in die Natur, um sich zu erholen. Grün tut scheinbar jedem gut!
Dirndlkleid & Co
Ein interkulturelles Projekt lebt vom gegenseitigen Austausch. So zeigen auch wir Bilder von Zuhause und lassen die Dorfbewohner an unserer Lebenswelt teilhaben. Die mitgebrachten Fotos amüsieren die Gruppe. Besonders interessant scheint die Aufnahme von unserer Tochter im Dirndlkleid zu sein. Als sie unser Skifahrerfoto entdecken, können sie es kaum glauben, dass sich wir Österreicher freiwillig dick vermummt auf zwei Brettln stehend bei eisiger Kälte die Berge hinunterstürzen und dabei auch noch Spaß haben.
Mozartkugel goes Papua
Als Dankeschön für die engagierte Mitarbeit beim Projekt überreichen wir zum Abschied Salzburger Mozartkugeln. Mit einer Mischung aus Nougat, Marzipan und Schokolade im Mund hören wir einen Dani sagen: „mmmh, they give energy.“ Wo er recht hat, hat er recht!
Die Lösung für das Fotoproblem
Auf unseren Reisen in ländliche Gebiete bekommen wir immer wieder den Vorwurf zu hören, dass wir Touristen gerne Einheimische fotografieren, die Abgelichteten aber nie ausgedruckte Bilder zu sehen bekommen. Da es im Baliem Valley nicht ganz so einfach ist, mit dem Thema Fotografie umzugehen, ist es für uns eine besondere Motivation, Ausdrucke der besten Fotografien vom Photo-Voice-Project und vom Schweinefest an die Dorfbewohner zu übergeben.
Am letzten Tag unserer Reise fahren wir nach Wamena, um ein paar Best-Of-Pictures entwickeln zu lassen. Im Fotogeschäft sind wir erstaunt, als der Verkäufer jedes einzelne Bild noch extra aufhellt bevor er es ausdruckt. Ein blasser Teint entspricht scheinbar dem Schönheitsideal der Insulaner. Mit ein paar Mausklicks hilft man da gerne nach. Leider bedenkt der Mitarbeiter nicht, dass mit der Papua-Verschönerungsaktion gleichzeitig unsere weißen Gesichter fürchterlich bleich werden. Aber was soll’s. Die Hauptsache ist, den Dani gefällt es.
Als wir am Abend die Bilder an Melius überreichen, ist die Freude groß. Wir finden, das ist eine schöne Geste für kultursensiblen Umgang mit Fotografie. Probiere das doch auch mal aus, wenn du das nächste Mal unterwegs bist. Wir können es echt empfehlen!
Die Quintessenz aus diesem Projekt
Für uns hat sich mit Photo-Voice ein Tor zur Welt der Dani geöffnet. Und das Beste daran: es konnten Brücken zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen gebaut werden.
BUCHTIPP: Visual Research Methods von Gregory C. Stanczak
DANKE an Ressortmanager Madi für die Organisation, an Melius und alle Dorfbewohner für’s Mitmachen sowie an unseren Guide Penius für die Übersetzung.
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Autorin: Marlies
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